Lichtgedanken 06

S C HW E R P U N K T 21 06 | LICHT GEDANKEN Religion und Künstlertum lud Haeckel praktisch Zeit seines Lebens zu Kontro- versen unterschiedlichster Art förmlich ein. Und auch später, besonders im 20. Jahrhundert, führten seine materialisti- schen, lamarckistischen, rassenhygieni- schen und monistischen Auffassungen in verschiedenen gesellschaftlichen Systemen dazu, dass Politiker, Wissen- schaftler oder die Öffentlichkeit diese in ihrem Sinne interpretierten und instru- mentalisierten. Stellvertretend sind hier zu nennen: sein lebenslanger Kampf für die Darwinschen Theorien und für die Etablierung des Unterrichtsfaches Bio- logie an Schulen, sein Kampf gegen die Kirche, die Etablierung seiner Ersatz- religion des Monismus, sein Faible für Bismarck, eugenische Gedanken oder den Sozialdarwinismus. Was glauben Sie, wie sich Haeckel im heutigen Wissenschaftssystem, in Zei- ten von Internet und neuen Medien zurechtfinden würde? Ich glaube, das Internet wäre durchaus sein Medium, waren doch »Volksauf- klärung« und Popularisierung stets ein wichtiges Anliegen seiner Forschung und Lehre. Hinzu kommt, dass Haeckel auch eine gewisse Selbstdarstellung und -inszenierung und eine gehörige Porti- on Narzissmus eigen waren. Zu seiner Zeit hat er mit Briefen, unzähligen Foto- grafien und Werken bereits weite Kreise der Bevölkerung nicht nur in der »scien- tific community« sondern auch in der Gesellschaft erreicht, von der Hausfrau bis zum Politiker. Die heutige Unmenge an verfügbaren Daten und Bildern, der schnelle Informationsaustausch hätten ihn sicher begeistert. Vielleicht hätte er Probleme mit der Vergänglichkeit von E-Mails gegenüber der Briefkultur sei- ner Zeit gehabt. Schließlich sind an und von Haeckel rund 46 000 Briefe erhalten. Was würden Sie gerne heute mit ihm diskutieren? Oh, da fallen mir zahlreiche Punkte ein. Ich würde ihn beispielsweise gerne fra- gen, warum er ab 1900 nicht auf die sich etablierende Genetik vertraut hat. Oder was ihn veranlasst hat, sich zum Gegen- papst ausrufen zu lassen. War wirklich das Band zwischen Religion und Wis- senschaft für ihn zerschnitten? Wie sieht er seine Forschungen innerhalb der Evolutions- und Entwicklungsbiologie verortet und warum hat er den Ansatz einer Verbindung von Sprache und Evo- lution nicht weiterverfolgt? Vor allem aber würde mich interessieren, was er zum Missbrauch von Teilen seines Wer- kes durch die Nationalsozialisten und Kommunisten zu sagen hätte. Ich ver- mute, er hätte kein Blatt vor den Mund genommen. Apl. Prof. Dr. Uwe Hoßfeld leitet die Arbeitsgruppe Biologiedidaktik im Institut für Zoologie und Evolutions- forschung der Friedrich-Schiller-Uni- versität Jena. Er stieß Ende der 1980er Jahre durch eine Artikel-Serie in der DDR-Wochenzeitschrift »Wochen- post« auf Haeckel und war fasziniert von dessen Persönlichkeit und Schaffenskraft. Zudem gehört das August Schleicher-Denkmal in seiner Heimatstadt Sonneberg zur nationalen Haeckel-Erinnerungskultur. Seitdem lassen ihn die Evolutionsforschung und Ernst Haeckel nicht mehr los. Hoßfeld ist Autor zahlreicher Forschungsar- beiten und populärwissenschaftlicher Publikationen zur Evolutionsgeschich- te und verfügt über ein umfangreiches Privatarchiv zu Haeckel. In seinem Arbeitszimmer im »Bienenhaus« der Universität Jena hängt allerdings kein Porträt von Ernst Haeckel – sondern von Charles Darwin (Foto oben).

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