Lichtgedanken 06

Rubrik 28 schränke auf der linken Seite, der sich quietschend öffnet, und verschwindet einen Moment in dem schummrigen Zwischenraum zwischen Gefäßen voll gelbgrüner und graubrauner Schuppen, Augen, Häute. Als Krüger seinen Arm zwischen den Schränken hervorstreckt, hält er eines der Gläser in der Hand. Die Meduse? Nein, nein, einen Python aus Java, den Haeckel von seiner Indone- sien-Expedition 1891 mitgebracht hat. Krüger wirkt belustigt über meinen er- schrockenen Blick und verschwindet wieder zwischen den Regalen. Etwa 17000 bis 20000 Präparate lagern hier, höre ich seine Stimme aus dem Dunkel. Fast alle kennt er und weiß eine Geschichte darüber zu erzählen. Seit 1980 arbeitet Matthias Krüger schon im Phyletischen Museum und hat damit ei- nen beachtlichen Teil der insgesamt 111 Jahre Museumsgeschichte persönlich miterlebt. Aber hier ist sie nun tatsächlich, die »annasethe«. Klein und blass wirkt sie, verglichen mit ihrer überdimensio- nierten, idealisierten großen Schwester aus Kunstharz. Vielleicht 20 Zentime- ter misst ihr Schirm im Durchmesser. Sie schimmert weiß, zart rötlich und schwimmt in einem großen Glas Form­ aldehyd. Die Tentakel – Anna Sethes »Haare« – erinnern an ein Knäuel zu lange gekochter Spaghetti. Prachtvoll wäre sicher nicht das Wort, das mir spontan zu ihrer Erscheinung einfiele. Dennoch ist es ein berührender An- blick, den dieser gallertartige Organis- mus bietet, der zum überwiegenden Teil aus nichts als Wasser besteht und doch schon mehr als ein Jahrhundert überdauert hat. Und der einen enthu- siastischen Wissenschaftler in einer schweren Lebenskrise zu einem außer- gewöhnlichen Kunstwerk inspirierte. Das, nachdem das Urheberrecht an den »Kunstformen« erloschen ist, heute mil- lionenfach reproduziert auf Postern und Büchern prangt, auf Alltagsgegenstän- den wie Tassen, T-Shirts oder Tapeten. Einzigartig ist diese Desmonema anna- sethe also durchaus, wenn auch in ande- rer Weise, als sie es für Haeckel gewesen ist. »Die Meduse, die wir hier im Glas haben, ist wohl das einzige jemals ge- fundene Exemplar dieser Art«, berichtet Eine von zehn Medusen des »Medusensaals« im Phyletischen Museum zeigt die von Haeckel beschriebene Periphylla mirabilis . Allerdings hatte diese Bezeichnung keinen Bestand, war die Art doch bereits 1809 – also 70 Jahre vor Haeckels Beschreibung – von den französi- schen Forschern François Péron und Charles Alexandre Lesueur als Periphylla periphylla beschrieben worden. Die Ausstellung zeigt ein Kunststoff-Modell dieser ungewöhnlichen Helmqualle (s. S. 22), die mit den Tentakeln nach oben schwimmt. Periphylla periphylla ist eine Tiefseequalle, die unter anderem in den Fjorden Norwegens vorkommt.

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