Lichtgedanken 06

S C HW E R P U N K T 29 06 | LICHT GEDANKEN mir später Dr. Brehm, den ich in seinem Büro zwei Stockwerke über dem Aus- stellungsraum besuche. »Es ist keines- wegs klar, dass es sich hierbei überhaupt um eine eigene Art handelt.« Schließlich habe seit Haeckel nie wieder jemand eine solche Meduse gesehen. Vermut- lich ist Desmonema annasethe einfach das Jugendstadium einer anderen Art. Dann hätte Haeckel ein Synonym produziert, »was ihm vergleichsweise oft passiert ist«, wie Brehm in einer weiteren Vitrine in der Ausstellung zeigen wird. Dafür haben er und Museumspäda­ gogin Sabrina Hug sich Haeckels 1879/1880 erschienene Monographie »Das System der Medusen« vorgenom- men, ein in Haeckelscher Manier ge- wichtiges zweibändiges Werk, in dem 580 Medusen beschrieben sind, 400 davon, laut Haeckels eigener Darstel- lung, Neubeschreibungen. »Aus heuti- ger Sicht, stimmt das nicht annähernd«, konstatiert Brehm und zeigt mir auf dem Bildschirm seines Computers ein Tortendiagramm, mit dem er Haeckels systematische Arbeit veranschaulicht. »Von diesen 400 Arten hat Haeckel 142 lediglich einer anderen Gattung zuge- ordnet und nur seinen Namen als Au- tor dahinter geschrieben.« Das sind nur neue Kombinationen, keine neuen Ar- ten«. Ein Drittel des Tortendiagramms ist deshalb rot eingefärbt. Und es kommt noch dicker. Von den ver- bleibenden 258 tatsächlich neu beschrie- benen Medusen-Arten, sind wiederum mehr als die Hälfte bis heute sogenann- te unklare Fälle; diese Organismen sind einfach seither nicht wiedergefunden worden – so wie die Desmonema anna- sethe . Ein weiteres Drittel der Torte färbt sich rot. »Nimmt man nun noch den Anteil mit wissenschaftlich falschen Beschreibungen heraus, bleiben von seinen 258 Arten gerade einmal 55 als tatsächlich gültige Neubeschreibungen Kontakt Prof. Dr. Martin S. Fischer, Dr. Gunnar Brehm Institut für Zoologie und Evolutionsforschung Phyletisches Museum Vor dem Neutor 1, 07743 Jena Telefon: +49 36 41 9-49 140 E-Mail: martin.fischer@uni-jena.de, gunnar.brehm@uni-jena.de www.phyletisches-museum.de Weitere Informationen: Die Ausstellung »10 Tons – Medusen – Ernst Haeckel« ist bis November 2020 im Phyletischen Museum der Friedrich-Schil- ler-Universität Jena zu sehen. übrig«, rechnet Brehm weiter vor. Ein recht schmales Tortenstück – gut 21 Pro- zent – bleibt schließlich grün gefärbt. Und es findet sich außer annasethe im Museum kein weiteres Typusexemplar, die es für die weitere Erforschung zwin- gend geben müsste. War Haeckel also ein schlampiger Wis- senschaftler? Brehm atmet tief ein, be- vor er antwortet. »Er war widersprüch- lich.« Einerseits unwahrscheinlich begabt, fleißig und produktiv. Anderer- seits sei er aber oft über das Ziel hinaus- geschossen. »Ich denke, er hätte mit we- niger mehr erreicht.« Haeckel habe es schließlich gar nicht nötig gehabt, sein Werk aufzubauschen. »Auch 258 Neu- beschreibungen sind eine große Zahl.« Brehm arbeitet selbst taxonomisch und weiß um die Mühe und Sorgfalt, die es braucht, um Organismen von anderen zu unterscheiden, zu beschreiben und verwandtschaftlich einzuordnen. Glanz und Widersprüchlichkeit Haeckels eher ernüchternde Treffsicher- heit in Sachen Artbeschreibung lässt sich auch sehr gut an der Deckenbema- lung im Medusensaal ablesen, den ich zum Abschluss meines Besuchs noch einmal aufsuche: Zehn Medusen sind dort zu sehen, alles Haeckelsche Erstbe- schreibungen. Sieben davon sind heute ungültig. An der von ihnen ausgehen- den Faszination ändert das jedoch rein gar nichts. Die dekorativen, ornament- haften Medusen sind und bleiben ein- fach Hingucker. Und sie bieten das per- fekte Ambiente für eine Ausstellung, mit der Bernhard Bock, Kenny Ja- ndausch, Gunnar Brehm, Sabrina Hug, Matthias Krüger und die anderen Muse- umsmitarbeiter Haeckels Vermächtnis in all seinem Glanz und auch in seiner Widersprüchlichkeit präsentieren. Dr. Gunnar Brehm ist wie Haeckel Taxonom – aller- dings arbeitet er mit Schmetterlingen und nicht mit Meeresorganismen. Haeckels Artkonzept und seine Arbeitsweise bei der Beschreibung von Medusenarten sieht er kritisch.

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