Lichtgedanken 06

S C HW E R P U N K T 17 06 | LICHT GEDANKEN en), entdeckte und zeichnete mehr als einhundert bis dato unbekannte Arten dieser mikroskopisch kleinen Organis- men. Zurück in Deutschland suchte er nun gezielt nach einer Universitäts- dozentur und fand sie 1861 in Jena, wo sein Freund und Förderer Carl Gegen- baur dem Zoologischen Institut als Di- rektor vorstand. Bereits ein Jahr später wurde er außerordentlicher Professor und selbst Direktor des Zoologischen Museums der Universität. Mit der 1862 erschienenen Monografie der Radio- larien erregte Haeckel erstmals große Aufmerksamkeit in der Fachwelt. Wäh- rend seine erste Vorlesung in Jena ganze neun Hörer hatte, sprach er im Winter- semester 1867/68 bereits vor über 200 Studenten, etwa einem Drittel der da- mals immatrikulierten Studenten. Der Name Haeckel war in aller Munde. Die Frage aller Fragen Im Jahr 1866 veröffentlichte Ernst Hae­ ckel ein fundamentales wissenschaftli- ches Werk: Die zweibändige »Generelle Morphologie der Organismen« umfass- te mehr als 1000 Seiten und bildete die Grundlage für sein gesamtes späteres Schaffen. Darin benannte er die Öko- logie als neue Disziplin und führte Begriffe wie die Phylogenie oder die Ontogenie ein, die bis heute Gültigkeit haben (siehe Kasten Seite 19). Und Hae- ckel ordnete das Leben neu: Er sortierte sämtliche systematischen Großgruppen der Lebewesen nach ihrer Abstammung und nutzte dafür die Darstellung in Stammbäumen. Anders als Darwin widmete sich Hae- ckel dabei bereits früh und offensiv der Frage aller Fragen: die nach der Stel- »Stammbaum des Menschen« (1874). Die Tusche- zeichnung von Ernst Haeckel (Format 21,5 x 13,5 cm) ist teilweise grau aquarelliert und enthält Ergänzun- gen mit blauem Stift. lung des Menschen in der Natur. Wäh- rend Darwin zunächst im Vagen blieb, ordnete Haeckel den Menschen ganz selbstverständlich in den Stammbaum der Lebewesen ein. Haeckel, der Rassist Nachdem Haeckel mit der »Generellen Morphologie« sein Feld für die Fach- welt abgesteckt hatte, wandte er sich in den folgenden Jahren mit seinen Er- kenntnissen und Ideen immer direkter an eine breite Öffentlichkeit. So ließ er seine Darwin-Vorlesungen mit steno- grafieren und brachte sie 1868 unter dem Titel »Die natürliche Schöpfungs- geschichte« heraus. Bis zu Haeckels Tod erscheinen elf Auflagen dieses Buches, was erheblich zur Popularisierung der Darwinschen Evolutionstheorie beitrug. Darin formulierte Haeckel allerdings auch erstmals rassenkundliche Über- legungen, die eine deutliche Klas- sifizierung in niedere und höhere Menschen-Arten vornahmen. Die be- wusste Abstufung von »Menschenras- sen« durch Haeckel lieferte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein das argumenta- tive Grundgerüst für sozialdarwinisti- sche und rassistische Rezeptionen, etwa durch die Nationalsozialisten. 1904 dachte Haeckel zudem in seinem Werk »Die Lebenswunder« über Euge- nik nach: ob es möglich sein dürfe, »ar- men Elenden« den Wunsch zu erfüllen, ihre Leiden durch einen schmerzlosen Tod abzukürzen – eine Frage von »emi- nenter Bedeutung sowohl für die prak- tische Philosophie als für die juristische und medicinische Lebens-Praxis.« Das

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