Lichtgedanken 06

S C HW E R P U N K T 19 06 | LICHT GEDANKEN Haeckel also Gott: »Alle Substanz be- sitzt Leben, anorganische ebenso wie organische; alle Dinge sind beseelt; Kris- talle so gut wie Organismen.« Und Haeckel wäre nicht Haeckel, wenn er seine Weltanschauung für sich behiel- te. Im Jahr 1906 gründete er den »Deut- schen Monistenbund«, der über eigene Zeitschriften, Flugblätter und Vorträge missionierte, mit dem Ziel, »eine ein- heitliche, naturgemäße Weltanschau- ung« in der Bevölkerung zu verbreiten. Schon zwei Jahre zuvor ist er während eines internationalen Freidenkerkon- gresses in Rom zum »Gegenpapst« ausgerufen worden. Das von ihm ge- gründete Phyletische Museum diente folgerichtig nicht nur als Museum zur Abstammungslehre, sondern wurde zugleich zum monistischen »Tempel« – quasi dem »Petersdom von Jena«. Glückwünsche zum Nobelpreis! Das Jahr 1908 war ein Schlüsseljahr für Ernst Haeckel. Aus Anlass der 350. Ju- biläums der Universität Jena veröffent- licht er »Unsere Ahnenreihe (Progono- taxis Hominis). Kritische Studien über Phyletische Anthropologie«. Darin fasst er noch einmal die wichtigsten Punkte seiner Forschung zusammen. 1908 war auch das Jahr, in dem das Phyletische Museum eröffnet wurde und Haeckel zahlreiche Glückwünsche zum Nobel- preis erhielt. Letzteres erwies sich je- doch rasch als Irrtum bzw. klassische »Zeitungsente«: Anfang Dezember 1908 machten Meldungen in verschiedenen italienischen und französischen Zei- tungen die Runde, Haeckel sei die Aus- zeichnung zuerkannt worden. Auch in einigen deutschen Blättern war zu lesen, der Preis gehe an die Universität Jena – jedoch ohne Nennung eines Namens. Geehrt wurde statt Haeckel der Jenaer Philosoph Rudolph Eucken. Haeckels Enttäuschung muss groß gewesen sein, als er den Irrtum erkannte. Er mutmaß- te, es habe in der Nobelpreis-Kommis- sion ein – gewissermaßen weltanschau- liches – Ringen um die Entscheidung zwischen Eucken, einem Vertreter des Idealismus und Anhänger Kants, und ihm, »dem Materialisten«, gegeben. Belegen lässt sich das allerdings nicht. Neben Eucken standen 15 weitere Na- men auf der Liste der Nominierten für den Literaturnobelpreis 1908, darunter so klangvolle wie Selma Lagerlöf, Adolf Harnack und Algernon Charles Swin- burne. Ernst Haeckel war nicht darunter zu finden. Die letzten Jahre Am 1. April 1909, im Alter von 75 Jah- ren, beendete Ernst Haeckel seine Lehr- tätigkeit an der Universität – nach fast 50 Jahren. In seinen letzten Lebensjah- ren war er mit etlichen Fälschungskla- gen konfrontiert. Kritiker warfen ihm bewusst verfälschende Darstellungen unter anderem in seinen Embryonenta- feln vor. Haeckel wehrte sich mit einer Schrift »Sandalion. Eine offene Antwort auf die Fälschungsanklagen der Jesu- iten.« Ein Jahr später trat Haeckel aus der Kirche aus. Als ihm zu seinem 80. Geburtstag im Fe- bruar 1914 die Herzöge von Sachsen (Meiningen, Altenburg, Coburg) den erblichen Adelstitel verleihen wollten, der aus ihm Ernst von Haeckel gemacht hätte, lehnte er »dankend« ab. Ernst Haeckel starb am 9. August 1919 in der »Villa Medusa«. Seine Asche wurde im Garten des Hauses verstreut. Der vorliegende Text stützt sich in weiten Teilen auf den Band »absolute Ernst Haeckel«, der 2010 im Verlag orange press erschienen und von Uwe Hoßfeld herausgegeben worden ist. Ernst Haeckel, zeichnend am Strand von Rapallo, 1903/1904. Biologische Begriffe Zu Haeckels bleibendem wissenschaftlichen Verdienst gehört, dass er in seinem monumen- talen Werk, der »Generellen Morphologie der Organismen« (1866), zahlreiche Begriffe in die biologische Terminologie eingeführt hat, die bis heute – über 150 Jahre später – Bestand haben. Dazu gehören: • Ontogenie »Entwickelungsgeschichte der organischen Individuen« • Phylogenie »Entwickelungsgeschichte der organischen Stämme« • Oekologie »die gesammte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt« • Promorphologie »Grundformenlehre der Organismen« • Chorologie »die gesammte Wissenschaft von der räumlichen Verbreitung der Organismen« • Spezies »die Gesammtheit aller Zeugungskreise, welche unter gleichen Existenzbedingungen gleiche Formen besitzen«

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