Lichtgedanken 06

S C HW E R P U N K T 20 Was ist Haeckels wichtigstes wissen- schaftliches Verdienst? Eines seiner bleibenden Verdienste ist es, bereits 1866 zahlreiche Begriffe in die biologische Terminologie eingeführt zu haben, die auch heute nach über 150 Jahren noch Gültigkeit besitzen. Etwa die Ontogenie, Phylogenie, Öko- logie oder den Begriff Stamm. Ebenso verdanken wir Haeckel das Aufstellen erster phylogenetischer Stammbäume – mit Einbeziehung des Menschen – oder auch die Gastraea-Theorie sowie das Biogenetische Grundgesetz. Haeckel wird oftmals als »deutscher Darwin« bezeichnet. Welche Rolle spielte Darwin für Haeckel? Darwin war neben Lamarck und Goethe eines von Haeckels Vorbildern. Dreimal war Haeckel bei Darwin zu Gast (1866, 1876, 1879), über zwanzig Jahre standen beide in engem, brieflichem Kontakt. In den Briefen wurde nicht nur fachliches, sondern oftmals auch persönliches und familiäres ausgetauscht. Was unterschied ihn von Darwin? Im Gegensatz zu Darwin war Haeckel spontaner, entscheidungsfreudiger, aber eben auch an vielen Stellen dadurch wissenschaftlich ungenauer. So integ- rierte er 1866 in sein phylogenetisches Gedankengebäude erstmals den Men- schen, während Darwin ab 1859 noch über ein Jahrzehnt darüber nachdachte. Er hielt zudem Darwins Lehre nicht für die endgültige, in allem zureichende Lösung des Schöpfungsrätsels. Er hat Darwins Ideen weiterentwickelt, er- gänzt und sofort ihre weltanschauliche Konsequenz erkannt. Welche Rolle spielte Haeckel als Sys- tematiker? Haeckel hat ca. 4000 neue Arten niede- rer Meerestiere beschrieben, das ist frag- los eine Pionierleistung. Er versuchte, mit diesen umfassenden systematischen Arbeiten an kleineren Organismengrup- pen durch den Nachweis ihrer genealo- gischen Abstammung die Deszendenz- theorie zu untermauern. Oder nehmen wir die Auswertung des Materials der Challenger-Expedition (1872 bis 1876), die in über zwölf Jahren durch 76 Gelehrte durchgeführt wurde. Haeckel bearbeitete hier die Radiolari- en, Medusen, Staatsquallen und Horn- schwämme. Insgesamt erschienen 50 Quartbände; davon hat Haeckel einen Anteil von 2763 Seiten Text und 230 Ab- bildungstafeln. Mit von ihm gewählten Artnamen hat er Familienangehörige, Freunde und Kollegen bedacht, darun- ter Darwin, Virchow und Huxley. Allerdings war er als Taxonom leider nicht so offen gegenüber Fortschritten innerhalb der Biologie und hat die um 1900 aufblühende Genetik kaum gewür- digt. Wobei hat er sich geirrt? Ich denke, wir machen es uns zu leicht, wenn wir ihm aus unserer heutigen Ururenkelperspektive retrospektiv Fehler und Irrtümer attestieren. Ich würde lieber davon sprechen, was aus heutiger Sicht als überholt gilt. Da wä- ren etwa seine Ansichten bezüglich der Tiefseehornschwämme, Medusen und Kalkschwämme zu nennen, auch das Biogenetische Grundgesetz, seine Gastraea-Theorie und Stammbaumdar- stellungen werden heute teilweise an- ders interpretiert. Das Gleiche gilt für seine Aussagen zur Humanphylogenie. Zu seiner Verteidigung muss man al- lerdings festhalten, dass es zu Haeckels Zeiten nur zwei humane fossile Belege gab: den 1856 entdeckten Neanderta- ler und den Fund des Pithecanthropus von 1890. Zudem lagen kaum Präparate menschlicher Embryonen vor. Er konnte nur deduktiv arbeiten. Trotzdem waren auch diese Fehlinterpretationen heuris- tisch wertvoll! Beim Namen Ernst Haeckel denkt man sofort an seine zahlreichen, detaillierten Zeichnungen. Sind das aus Ihrer Sicht wissenschaftliche oder eher künstlerische Arbeiten? Ich bin kein Kunsthistoriker, aber ich denke, sie vereinen beide Komponen- ten. Auch als Künstler war Haeckel unheimlich fleißig: Zwei Dutzend Skiz- zenbücher und um die 1 000 Aquarelle belegen das. Sie stehen für seine Art von Popularisierung und Visualisierung der Biologie und sein Interesse für Land- schaftsmalerei, für den Wechsel von der Mikroebene (Mikroskop) hin zur Makroebene. Haeckel war ein Augen- mensch, ein Homo opticus . Das Bild war für ihn statt bloßer Illustration zentraler Ort der Erkenntnis. Wie würden Sie Haeckel als Menschen charakterisieren? Haeckel war zweifellos ein streitbarer Geist, der vom Zoologen zum »Volks- aufklärer« mutierte. Auf der einen Seite feingeistig, sinnlich realistisch, politisch interessiert, konnte er auf der anderen Seite auch ironisch, sarkastisch und stur sein. Er war ein guter Hochschullehrer, der stets auf der Wahrheit seiner wis- senschaftlichen Befunde beharrte und diese gegen alle Widerstände vertei- digte. Er war aber auch Genussmensch und bevorzugte in Thüringer Gasthö- fen Rostbrätel oder Truthahn mit einem Kännchen Lichtenhainer zu verzehren. Haeckel war auch Sportler, der große Strecken wanderte, kletterte, schwamm oder ruderte. Warum hat Haeckel so polarisiert? Durch seine enge und stete Verknüpfung von Wissenschaft und Weltanschauung, Querdenker und streitbarer Geist Der Wissenschaftshistoriker und Biologiedidaktiker Uwe Hoßfeld spricht im Interview über den Wissenschaftler, Künstler und Menschen Ernst Haeckel, mit dem ihn über 30 Jahre Forschungsarbeit verbinden. INTERVIEW: UTE SCHÖNFELDER

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