Lichtgedanken 06

S C HW E R P U N K T 30 Mien liber Großvater! Was machst Du? Den 15 Mei waren wir in Leipzig; ich und Mutter waren in einer Thierbude wir, sahen da: 1. 4 Pelikane, 2. 1nen Tiger, 3. Affen, 4. 1 Waschber, 5. 1 Wolf und 1 Ber zusam in 1 Kefig, 6. 1 Bär, 7. 1 Löwe 8. 1 Dachs, 9. 1 Kakadu 10. Papagei 11. 1 Riesenschlange Dein Ernst Bereits als Schuljunge hat sich Ernst Haeckel anscheinend für zwei Dinge besonders begeistern können, wie sein erster überlieferter Brief vom 22. Mai 1840 nahelegt: Tiere und Ordnung. Kein Wunder also, dass aus dem damals Sechsjährigen später ein berühmter Na- turforscher und Evolutionsbiologe wur- de. Zeit seines Lebens ist er dabei ein fleißiger Briefeschreiber geblieben, dem ersten postalischen Gruß an den Groß- vater sollten nämlich bis zu seinem Tod 1919 viele Tausend weitere folgen. Hae­ ckel stand auf diese Art und Weise so- wohl mit Familie und Freunden, als auch mit Kollegen und allen an seiner Arbeit Interessierten in regem Austausch. Das Besondere daran: Der ordnungslieben- de Haeckel warf nichts weg, sondern bewahrte seine Korrespondenzen nahe- zu vollständig auf. Zum einen sammelte er sie aus privatem Interesse – so bat er etwa seine Eltern, seine Briefe für ihn aufzuheben, da sie ihm als Tagebucher- satz dienten. Zum anderen war er sich seiner Bedeutung als Wissenschaftler durchaus bewusst und archivierte des- halb sämtlichen Schriftverkehr für die Nachwelt. Somit liegt uns heute ein papiernes Vermächtnis aus rund 46 000 Briefen vor. Dass wir anhand seines Schriftverkehrs das Leben und Wirken des berühm- ten Denkers bis ins hohe Alter nach- verfolgen können, daran arbeiten seit 2013 die Mitarbeiterinnen und Mitar- beiter der Ernst Haeckel Briefedition im »Ernst-Haeckel-Haus« der Fried- rich-Schiller-Universität. Bis zum Jahr 2037 will das an der Nationalen Akade- mie der Wissenschaften – Leopoldina – angesiedelte und von der Union der DeutschenAkademien finanzierte Editi- onsprojekt die gesamte Korrespondenz Haeckels online verfügbar machen und ausgewählte Briefe in einer 25-bändigen Printedition veröffentlichen. Auf der Buchstabenebene Dabei profitieren sie auch von Haeckels eigenen Vorarbeiten. »Haeckel hat in den Jahren vor seinem Tod bereits ge- meinsam mit seinem Mitarbeiter Hein- rich Schmidt begonnen, seinen Nachlass zu ordnen«, sagt Dr. Thomas Bach, der Leiter der Briefedition. »Die Korres- pondenzen sortierte er dabei in seinem Nachlass an erster Stelle ein.« Immerhin zwei Drittel der vorliegenden Papiere stammen aus diesem Archiv, die übri- gen sind durch umfangreiche Recher- che zusammengetragen. Mitarbeiterin Claudia Taszus schrieb weltweit Archi- ve an und fragte nach Haeckel-Briefen in ihren Beständen. Noch heute melden Institutionen neue Funde, da manche Nachlässe von Haeckels Briefpartnern erst jetzt erschlossen werden. Die Metadaten der Briefe sind inzwi- schen komplett in der Online-Edition erfasst. Die Forscher haben dafür jeden Brief in der Hand gehabt und Informa- tionen wie Datum, Ort, Verfasser und Empfänger verzeichnet. Nun bearbei- ten sie einen Brief nach dem anderen in drei Schritten: Zunächst gleichen sie die bereits aufgenommenen Metadaten mit den originalen Briefen oder Kopien ab. Schließlich transkribieren und kollati- onieren sie die Texte. Das bedeutet, ein Mitarbeiter überträgt das Geschriebene in ein Worddokument und ein Kollege vergleicht dann diese Abschrift noch einmal mit dem Original. Sind alle Pro- zesse abgeschlossen, landet der Brieftext sofort in der Online-Edition und ist im Internet abrufbar. Vor allem der Umfang und die Qualität der Handschriften be- stimmen, wie viel Zeit die Bearbeitung eines Briefes in Anspruch nimmt. »Wir haben sowohl kurze Postkartentexte als auch mehrseitige Briefe vorliegen«, sagt Bach. »Und ein Bewunderer des Biolo- gen hinterließ meist ein klareres Schrift- bild als etwa Haeckels Tante Bertha, de- ren Zeilen schwerer zu lesen sind.« Während ihres Arbeitsalltages bewegen sich die wissenschaftlichen Mitarbeite- rinnen und Mitarbeiter der Edition vor allem auf der Ebene der Buchstaben. »Wir konzentrieren uns bei der Trans­ kription und Kollation der Briefe auf Sprache, Grammatik und Buchstaben- bestand«, sagt Bach. »Je mehr man in- haltlich einsteigt, umso länger braucht man für einen Brief.« Doch so ganz kön- nen sich die Forscher dem Gegenstand des Geschriebenen doch nicht entzie- hen. »Natürlich begleiten wir Haeckel jahrelang auf ganz besondere Weise durch sein Leben, wir sind schließlich nicht aus Teflon. Nur die Fülle verhin- dert, dass alles an uns haften bleibt.« Morddrohungen per Post So berühre es schon, etwa den Aus- tausch zwischen Haeckel und seiner ersten Ehefrau Anna Sethe zu verfol- gen, in dem sie ihr gemeinsames Leben und ihre Hochzeit planen. Denn Anna starb kurz nach der Heirat 28-jährig. »Das liest sich wie ein Krimi mit Spoi- ler«, sagt der Geisteswissenschaftler zur Lektüre dieser Briefe. Auch die Anfein- dungen, denen Haeckel als Verfechter der Evolutionstheorie ausgesetzt war, landeten in seiner Post. Sogar Morddro- hungen seien darunter gewesen. Mitunter lassen sich erst aus dem Inhalt der Post wichtige Informationen zur Einordnung eines Briefes herausfiltern. »Seid herzlich gegrüßt von Eurem treuen Ernst« Genauso regelmäßig wie wir heute E-Mails verschicken, schrieb Ernst Haeckel tagtäglich Briefe. Ein Großteil seiner Korrespondenz ist bis heute erhalten. Wissenschaftshistoriker machen diesen Schatz nun zugänglich. Bis zum Jahr 2037 wollen sie sämtliche Briefe von und an Haeckel in einer Online-Datenbank bereitstellen. TEXT: SEBASTIAN HOLLSTEIN

RkJQdWJsaXNoZXIy OTI3Njg=