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S C HW E R P U N K T

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Brauchen wir dafür ein Themenjahr?

Der Zusammenhang zwischen loka-

ler und globaler Ebene besteht doch

grundsätzlich immer.

Wir brauchen es, aber nicht, um sol-

che Zusammenhänge aufzuklären. Die

sind uns wohl bewusst: Inzwischen

weiß wirklich jeder, dass die T-Shirts,

die wir bei H&M kaufen, in Bangla-

desch gemacht werden und das unter

zweifelhaften Bedingungen. Wir wis-

sen auch ganz genau, dass unser öko-

logischer Fußabdruck viel zu groß ist.

Und dennoch: Schadstoffemissionen

und Ressourcenverbrauch steigen wei-

ter Jahr für Jahr. Das ist der aktuelle

Weltzustand. Und unsere kleinen Ver-

suche, auf eine Plastiktüte zu verzich-

ten oder Ökoprodukte zu kaufen, sind

kaum mehr als Augenwischerei. Und

deshalb brauchen wir das IYGU: Wir

müssen ein anderes Verständnis für die

Welt entwickeln. Nicht mehr Fakten in

die Welt bringen, sondern anders mit

diesen Fakten umgehen.

Was bedeutet für Sie in diesem Zusam-

menhang »Global Understanding«?

Es ist der Gegenentwurf zum allge-

genwärtigen Modus der Verfügbar-

machung der Welt und dem Wunsch,

die Welt zu beherrschen. Der hat uns

nicht nur als Gesellschaft jede Menge

Probleme beschert. Er treibt uns auch

als Individuen. Wir sind ständig dabei,

unsere persönliche Reichweite zu erhö-

hen, durch immer neue Technik: das

Smartphone, das uns unsere Freunde in

Reichweite bringt, oder das Flugzeug,

das für uns entlegene Regionen der

Welt erreichbar macht. Und dagegen

steht die Idee des Global Understan-

ding. Es darf nicht mehr um das Ver-

fügbar- und Erreichbarmachen gehen,

sondern darum, wahrzunehmen und

zu antworten. Die Stimme des Anderen

zu hören, wobei das Andere entweder

ein Mensch sein kann, aber auch Dinge,

Kunstwerke oder die Natur. Das ist ein

wichtiger Umbruch, an dem wir welt-

weit arbeiten müssen.

Was ist von einer solchen Initiative

aus der Wissenschaft zu erwarten?

Das lässt sich meiner Ansicht nach gar

nicht konkret sagen. Wir müssen ja ge-

rade weg von konkreten Erwartungen

in Form von Reports oder Benchmarks.

Dieses Projekt ist anders angelegt. Die

Akteure denken an ganz unterschied-

lichen Stellen auf neue Weise darüber

nach, wie sie mit der Welt verknüpft

sind in dem, was sie tun. Es gibt da

interessante Beispiele, etwa in Brasili-

en. Dort treten Unternehmen, Schulen,

Universitäten in einen Dialog, in dem

es nicht um konkrete Vereinbarungen

und Ziele geht, sondern um neue For-

men der Verständigung. Was in diesem

Prozess herauskommt, steht nicht im

Vorfeld fest. Ja, es gibt nicht einmal eine

Garantie dafür, dass überhaupt etwas

herauskommt. Aber die Chance, einen

Verständigungsprozess im Sinne einer

Resonanzorientierung in Gang zu set-

zen, ist, glaube ich, gegeben.

Sie beschreiben in Ihren Büchern

den Zustand der Welt als sich immer

schneller verschärfende Krisen. Ist

die Welt überhaupt noch zu retten?

Das weiß ich nicht (

lacht

). Wenn man

sich derzeit die Nachrichten anschaut,

können einem schon Zweifel kommen.

Ich glaube aber, es ist unsere Aufga-

be, es zu versuchen. Das ist die Auf-

gabe von uns Wissenschaftlern, aber

auch die Aufgabe jedes Einzelnen als

Mensch und Bürger: von unserem per-

sönlichen Standpunkt aus, mit unseren

Einsichtsmöglichkeiten, die Welt besser

zu machen und gelingendes Leben zu

ermöglichen. Zu kapitulieren wäre be-

stimmt keine gute Idee.

Was treibt denn diese scheinbar un-

ausweichlichen Entwicklungsprozes-

se in der Welt an?

Das ist schwierig zu beantworten.

Denn viele dieser Prozesse vollziehen

sich hinter dem Rücken der Akteure.

Ich glaube, dass die Moderne getrieben

wird von dem Versprechen, dass die

Welt verstehbar und vor allem gestalt-

bar ist. Dass wir sie steuern und formen

Die Schwingungen der Stimmgabel oder der Gitarrensaiten erzeugen im Instrument Resonanz und lassen es mitschwingen. Hartmut Rosa überträgt dieses

physikalische Phänomen auf die Beziehungen des Menschen. Er versteht »Global Understanding« als resonantes Verhältnis des Einzelnen zur Welt.