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          Uni-JournalJena07/14
        
        
          „Ein kostbares Geschenk“
        
        
          
            Tilo Schieck erinnert sich an seine Studentenzeit im Herbst 1989
          
        
        
          Tilo Schieck gehörte zu den herausra-
        
        
          genden Akteuren des von Studenten
        
        
          ausgehendenAufbruchsander FSU.Der
        
        
          gebürtigeLeipziger, der inHalle zunächst
        
        
          Landwirtschaft (Pflanzenproduktion) stu-
        
        
          dierte, kam 1987 eher unfreiwillig nach
        
        
          Jena: Er hatte sich für einTheologie-Stu-
        
        
          dium inRostockbeworben, ist dort aber
        
        
          wegen einer Akte abgelehnt worden.
        
        
          Dann kamdieZusage aus Jena,wo„re-
        
        
          nitente“Studentenwillkommenwaren.
        
        
          
            Herr Schieck, auch nach den Präsi-
          
        
        
          
            dentschaftswahlen in der Ukraine
          
        
        
          
            kommt das Landnicht zur Ruhe.Was
          
        
        
          
            empfinden Sie angesichts der Bilder
          
        
        
          
            von Demonstrationen und Gewalt,
          
        
        
          
            dieunsüber dieMedienbeinahe täg-
          
        
        
          
            licherreichen,mitBlickauf IhreErfah-
          
        
        
          
            rungen aus dem Jahr 1989?
          
        
        
          Natürlich interessierenmichdieNach-
        
        
          richten aus der Ukraine. DochParallelen
        
        
          zur Situation 1989 in der DDR sehe ich
        
        
          eher bei denEreignissen inSpanien,wo
        
        
          TausendeJugendlicheauf dieStraßege-
        
        
          gangen sind, undbeim arabischenFrüh-
        
        
          ling. Es sind doch Perspektivlosigkeit
        
        
          der jungen Leute und die starre Gesell-
        
        
          schaft, die zur Unzufriedenheit mit dem
        
        
          jeweiligenSystem führen.
        
        
          
            Sie haben sich 1989 bürgerschaftlich
          
        
        
          
            engagiert.Woher rührte der Impuls,
          
        
        
          
            sich einzumischen?
          
        
        
          Ichwar in der kirchlichen Friedensbe-
        
        
          wegung engagiert, habe beispielsweise
        
        
          im „Wehrunterricht“ das Schießen ver-
        
        
          weigert. Doch einmal habe ich mich
        
        
          dochdemDruckgebeugt.Währendmei-
        
        
          ner Penne-Zeit hieß es in einem für uns
        
        
          Schüler obligatorischenGST-Lager (Anm.
        
        
          d. Red.: GST steht für Gesellschaft für
        
        
          Sport undTechnik, eine paramilitärische
        
        
          Organisation in der DDR, die der Vorbe-
        
        
          reitung auf denWehrdienst diente) klipp
        
        
          und klar:Wer das Schießen verweigert,
        
        
          der geht nicht zum Studium. Also habe
        
        
          icheinmalmit der Kleinkaliber-Kalaschni-
        
        
          kow geschossen. NochWochen später
        
        
          hatte ich deswegen einmieses Gefühl.
        
        
          Und für mich stand fest, dass ich mich
        
        
          nicht wieder verbiegen lasse. In Halle
        
        
          habe ich dann den Friedenskreis der
        
        
          EvangelischenStudentengemeindemit-
        
        
          begründet.
        
        
          
            Sehen Sie den politischenWandel in
          
        
        
          
            der DDR, imOstblock als Revolution
          
        
        
          
            an?
          
        
        
          Ich spreche lieber von einer radikalen
        
        
          gesellschaftlichen Umwälzung. Wenn
        
        
          Revolution – dann war es eine typisch
        
        
          deutscheRevolution.
        
        
          
            Dasmeintwas?
          
        
        
          EineRevolution, dienicht zuEndege-
        
        
          führtwurde.Dennviele IdealederRevo-
        
        
          lutionäresindauf der Streckegeblieben,
        
        
          ebenso wie die Protagonisten des An-
        
        
          fangs, die rasch inder Bedeutungslosig-
        
        
          keit versanken.
        
        
          
            In China wurden Proteste gewalt-
          
        
        
          
            samniedergeschlagen. HattenSie im
          
        
        
          
            Herbst 1989Angst vor einer„chinesi-
          
        
        
          
            schen Lösung“ inder DDR?
          
        
        
          Einmal hatten wir wirklich Angst:
        
        
          am 9. Oktober. Wir hatten uns in der
        
        
          Goethe-Gedenkstätte am Fürstengra-
        
        
          ben getroffen und wussten nicht, was
        
        
          in Leipzig passiert (Anm. d. Red.: Am 9.
        
        
          Oktober 1989 beteiligten sich in Leipzig
        
        
          das erste Mal tausende Menschen an
        
        
          derMontagsdemonstration.)Wir hatten
        
        
          Angst, das Haus zu verlassen, weil wir
        
        
          dachten, verhaftet zuwerden.
        
        
          
            War esAngst, dieSiegelähmt hat?
          
        
        
          Nur kurz. Dann entstand daraus der
        
        
          Impuls, die ganze Universität aufzuwie-
        
        
          geln. Die Idee, das Reformhaus ins Le-
        
        
          ben zu rufen, entstand in diesemMo-
        
        
          ment, an diesemTag.
        
        
          
            Was war für Sie das entscheidende
          
        
        
          
            „Wende“-EreignisanderUniversität?
          
        
        
          Es war das sogenannte Reformhaus,
        
        
          die große Versammlung der Studenten
        
        
          am 19. Oktober in der Aula. Von da an
        
        
          gabeskeinZurückmehr,wir hieltendas
        
        
          Heft desHandelns in der Hand.
        
        
          
            Was sehen Sie – im Rückblick – als
          
        
        
          
            geglückt an, als Erfolgder Umgestal-
          
        
        
          
            tung ander FSU?
          
        
        
          Es gibt vieleDinge, die uns gelungen
        
        
          sind. Etwa der Studentenrat als frei ge-
        
        
          wähltes Gremium, das die Interessen
        
        
          derStudentenschaft vertritt. IndieserArt
        
        
          war der Stura jaohneBeispiel.Mandarf
        
        
          durchausdaranerinnern, dassdieStura-
        
        
          Wahlen Ende November 1989 die ers-
        
        
          ten freienWahlen in Jenawaren. Positiv
        
        
          schätze ich auch die Arbeit der Perso-
        
        
          nalkommission ein, die nicht als Rächer
        
        
          agierte. Vor allem aber hat der Aufbruch
        
        
          sichergestellt, dass die Studenten und
        
        
          dieWissenschaft frei undohneDrangsal
        
        
          ihrenWeg gehen konnten.
        
        
          
            Gibt es etwas, dasSie vermissen?
          
        
        
          Leider sindviele Idealeverschwunden
        
        
          undErfolgevoneinstwieder rückgängig
        
        
          gemachtworden.DieUniversität alssich
        
        
          selbstverwaltendeEinrichtung, gleichbe-
        
        
          rechtigt von Studenten, Mittelbau und
        
        
          Professoren, gibt es inZeitendesHoch-
        
        
          schulrates nicht (mehr). Z. B. ist unser
        
        
          damaliges studentisches Veto-Recht im
        
        
          Senat inzwischenGeschichte.DerStuRa
        
        
          bietet kein schönes Bild, es scheint, als
        
        
          sei der Kontakt zwischenStuRaundStu-
        
        
          denten abgebrochen. Dafür ist er eine
        
        
          Spielwiese für den politischen Parteien-
        
        
          nachwuchs und langjährige Studenten-
        
        
          funktionäregeworden. Selbst einstellige
        
        
          Wahlergebnissewerdennicht reflektiert.
        
        
          Schade finde ich, dass die Bologna-Re-
        
        
          form das Studium stark verschult und
        
        
          eingeengt hat. Der Blick über denTeller-
        
        
          rand, das Finden des eigenen Themas
        
        
          für sein Leben oder zumindest dessen
        
        
          nächste Etappe ist kaum nochmöglich:
        
        
          Die studentische Freiheit, die Freiheit
        
        
          des Studiums sehe ich nichtmehr.
        
        
          
            HabenSieeinebesondereErinnerung
          
        
        
          
            an den 9. November, denTag, als die
          
        
        
          
            Mauer fiel?
          
        
        
          An diesem Abend kam ich von einer
        
        
          Beratungsrunde an der Uni. Auf dem
        
        
          Heimweg traf ich am Johannistor einen
        
        
          Bekannten, dermir sagte, dieMauer sei
        
        
          gefallen. Ich habe ihn ausgelacht, lief
        
        
          nachHause und legtemich schlafen.
        
        
          
            Die junge Generation von Studieren-
          
        
        
          
            den hat kaum noch einen Bezug zu
          
        
        
          
            den Ereignissen der Jahre 1989/90.
          
        
        
          
            Warum sollte sie sich dennoch dafür
          
        
        
          
            interessieren?
          
        
        
          Ich ermutige jeden Studenten von
        
        
          heute, den Mut zu haben, die eigene
        
        
          Meinung zu äußern und offensiv zu
        
        
          vertreten. Ein Studium ohne politische
        
        
          Vorgaben ist ein kostbares Geschenk,
        
        
          das kaumhochgenugbewertetwerden
        
        
          kann. Das Jahr 1989 lehrt uns außer-
        
        
          dem, dass scheinbare auf ewig gefügte
        
        
          Verhältnisse in ganz kurzer Zeit zusam-
        
        
          menbrechen können.
        
        
          (Interview: Stephan Laudien)
        
        
          
            Fast23Jahreliegen
          
        
        
          
            zwischendenbeiden
          
        
        
          
            Aufnahmen.Tilo
          
        
        
          
            Schieck(50)arbeitet
          
        
        
          
            heutealsstellvertre-
          
        
        
          
            tenderTeamleiterfür
          
        
        
          
            Qualitätssicherung
          
        
        
          
            imReinraumbei
          
        
        
          
            derOpticsBalzers
          
        
        
          
            JenaGmbHundsitzt
          
        
        
          
            fürBündnis90/Die
          
        
        
          
            GrünenalsFrak
          
        
        
          
            tionschefimJenaer
          
        
        
          
            Stadtrat.Dieuntere
          
        
        
          
            AufnahmevomJa-
          
        
        
          
            nuar1992zeigtden
          
        
        
          
            damaligenStuRa-
          
        
        
          
            Vorsitzendender
          
        
        
          
            FSU,andessenGrün-
          
        
        
          
            dungermaßgeblich
          
        
        
          
            beteiligtwar.
          
        
        
          Fotooben:J.Scheere
        
        
          Fotounten:Günther
        
        
          
            FSU intern